BGH-Urteil vom 21. Juni 2022 zum Umfang der Vertretungsbefugnis eines besonderen Vertreters

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in seinem Urteil vom 21. Juni 2022, Aktenzeichen II ZR 181/21, wichtige Klarstellungen zur Vertretungsbefugnis eines besonderen Vertreters innerhalb einer Aktiengesellschaft vorgenommen.

Dieses Urteil ist von erheblicher Bedeutung für die rechtliche Praxis, da es detailliert den Umfang und die Grenzen der Befugnisse eines besonderen Vertreters definiert, der durch Beschlüsse der Hauptversammlung bestellt wird.
Rechtsanwalt Jörg Streichert
Fachanwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht

I. Überblick über den Fall

Im Rahmen von Beschlüssen der Hauptversammlung der beklagten Aktiengesellschaft am 30. Juni 2014 und 30. April 2015 wurde gemäß § 147 Abs. 2 Satz 1 AktG ein besonderer Vertreter bestimmt. Ziel war die Durchsetzung von Ersatzansprüchen gegen frühere Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder. Laut Beschluss vom Juni 2014 durfte der besondere Vertreter externe Berater hinzuziehen, insbesondere solche, die zur beruflichen Verschwiegenheit verpflichtet sind, um umfassende rechtliche und technische Unterstützung zu erhalten.

Mandats- und Vergütungsvereinbarungen

Der besondere Vertreter und die Gesellschaft schlossen eine Vereinbarung über die Hinzuziehung von Hilfspersonen sowie eine Vergütungsregelung, die es dem besonderen Vertreter erlaubte, Vorschüsse für Beratungsleistungen in Rechnung zu stellen. Die Befugnisse des besonderen Vertreter wurden 2015 erweitert, um weitere potenzielle Anspruchsgegner einzubeziehen.

Geltendmachung der Ansprüche und folgende Rechtsstreitigkeiten

Der besondere Vertreter initiierte daraufhin mehrere Klagen, um Ersatzansprüche geltend zu machen. Trotz zunächst abweisender Entscheidungen schloss er eine erweiterte Mandats- und Vergütungsvereinbarung mit einer Anwaltskanzlei, welche die Beklagte in diesen Rechtsstreitigkeiten vertrat. Es wurde ein Stundenhonorar von 350,00 € netto vereinbart.

Streitigkeiten über die Honorarforderungen

Nachdem mehrere Honorarrechnungen vom besonderen Vertreter genehmigt und zur Zahlung an den Vorstand weitergeleitet wurden, stellte der Vorstand die Angemessenheit des berechneten Aufwands in Frage und lehnte die vollständige Begleichung weiterer Rechnungen ab.

Urteil und Berufungsverfahren

Das Landgericht Heidelberg verurteilte die Beklagte zur Zahlung der geforderten Summen. Nach Berufung durch die Beklagte hob das OLG Karlsruhe das Urteil jedoch auf und wies die Klage mit der Begründung ab, die Beklagte sei durch den besondere Vertreter nicht gesetzeskonform vertreten worden.

II. Rechtliche Analyse

Die Aktiengesellschaft wird gemäß § 78 Abs. 1 Satz 1 AktG grundsätzlich durch ihren Vorstand vertreten. Ausnahmen bestehen, wenn das Aktiengesetz die Vertretung der Gesellschaft einem anderen Organ zuweist. Eine solche Ausnahme stellt der besondere Vertreter dar, dessen Befugnisse und Aufgaben im Folgenden näher erläutert werden.

Vertretungsmacht des besonderen Vertreters

Der besondere Vertreter übernimmt die Rolle eines gesetzlichen Vertreters der Gesellschaft, soweit es um die Verfolgung von Ersatzansprüchen gegen Mitglieder des Vorstands oder Aufsichtsrats geht. Seine Vertretungsmacht stellt einen abgespaltenen Teil der umfassenden gesetzlichen Vertretungsmacht des Vorstands dar und bezieht sich insbesondere auch auf die erforderlichen Hilfsgeschäfte zur Geltendmachung dieser Ansprüche.

Hilfsgeschäfte und deren Umfang

Die Vertretungsbefugnis des besonderen Vertreters erstreckt sich auf alle zur Durchsetzung der Ersatzansprüche notwendigen Hilfsgeschäfte. Dazu gehört insbesondere die Beauftragung eines Rechtsanwalts im Namen der Gesellschaft sowie die gerichtliche Vertretung der Gesellschaft gegenüber dem Rechtsanwalt in Verfahren, die im Zusammenhang mit der Geltendmachung der Ersatzansprüche stehen.

Aufgaben und Zuständigkeit des besonderen Vertreters

Der besondere Vertreter ist berechtigt, alle Geschäfte abzuschließen, die zur Geltendmachung des Anspruchs notwendig sind. Der Umfang seiner Vertretungszuständigkeit wird durch den Inhalt der jeweiligen Aufgabenzuweisung bestimmt, wobei sich diese innerhalb der zugewiesenen Aufgabe sowohl auf die Vorbereitung als auch auf die Durchführung bezieht.

Gerichtliche und außergerichtliche Vertretung

Die Geltendmachung von Ersatzansprüchen durch den besonderen Vertreter umfasst damit sowohl die gerichtliche als auch die außergerichtliche Durchsetzung. Dies schließt die Prüfung der Prozessaussichten und die Beauftragung eines Rechtsanwalts im Namen der Gesellschaft ein.

Im Erkenntnisverfahren über Vergütungsansprüche des beauftragten Rechtsanwalts vertritt der besondere Vertreter die Aktiengesellschaft, sofern das Verfahren vor Abschluss der Anspruchsverfolgung anhängig wird.

Eigenverantwortliche Aufgabenwahrnehmung

Eine sachgerechte Wahrnehmung der Aufgaben des besonderen Vertreters umfasst auch die Anleitung und Überwachung der eingesetzten Hilfspersonen sowie die Bewertung der Auftragsausführung. Die Prozessvertretung der Gesellschaft in Verfahren gegen Hilfspersonen fällt ebenfalls in den Zuständigkeitsbereich des besonderen Vertreters und dient der unabhängigen Verfolgung der Ersatzansprüche.

Bedeutung der klaren Zuständigkeitsbestimmung

Zur Vermeidung von Interessenkonflikten und zur Sicherstellung der unabhängigen Aufgabenwahrnehmung ist eine klare und rechtssichere Bestimmung der Zuständigkeit des besonderen Vertreters entscheidend. Eine Gefährdung der unabhängigen Aufgabenwahrnehmung kann bereits dann bestehen, wenn der besondere Vertreter Informationen an Vorstand oder Aufsichtsrat weitergeben müsste, die im Rahmen der Anspruchsverfolgung vertraulich behandelt werden sollten.

Insgesamt zeigt sich, dass die Vertretungsmacht des besonderen Vertreters weitreichend ist und essenziell für die unabhängige und effektive Verfolgung von Ersatzansprüchen im Namen der Gesellschaft.

III. Schlussbemerkung

Umfang der Vertretungsmacht: Der besondere Vertreter besitzt eine abgespaltene Vertretungsmacht des Vorstands, die sich auf die Verfolgung von Ersatzansprüchen gegen Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder erstreckt. Diese Vertretungsmacht schließt die Befugnis ein, notwendige Hilfsgeschäfte zur Anspruchsverfolgung durchzuführen.

Mandatsumfang und Aufgabenbereich: Die Vertretungsbefugnis des besonderen Vertreters umfasst sowohl die gerichtliche als auch die außergerichtliche Durchsetzung von Ersatzansprüchen. Der Vertreter darf Rechtsanwälte beauftragen und muss diese bei der Aufgabenwahrnehmung anleiten und überwachen.

Prozessvertretung: Die Vertretungsmacht des besonderen Vertreters in einem Erkenntnisverfahren über Vergütungsansprüche gegen beauftragte Hilfspersonen besteht auch dann, wenn das Verfahren vor Abschluss der Geltendmachung der Ersatzansprüche beginnt. Dies sichert eine unabhängige und effektive Durchsetzung der Ersatzansprüche.

Sicherstellung der Unabhängigkeit: Die unabhängige Wahrnehmung der Aufgaben des besonderen Vertreters ist entscheidend. Eine Gefährdung dieser Unabhängigkeit durch Offenlegungspflichten gegenüber dem Vorstand oder Aufsichtsrat wird durch die weitgehende Vertretungsbefugnis vermieden.

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Rechtsanwalt Gesellschaftsrecht Jörg Streichert
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